Quasselstrippe mit Computerstimme
Die elektronische Stimme ist Teil der Identität
Heute ist der Delta-Talker längst technisch überholt. Aber von seiner Stimme konnte sich Kathrin Lemler nicht trennen. Denn obwohl sie monoton und verzerrt klingt, ist sie für die 28-Jährige ein Stück ihrer Identität geworden. Als sie sich die Stimme aussuchen sollte, habe sie sich für die frechste entschieden, sagt Kathrin Lemler und führt vor, was sie meint. „Mensch!“, sagt ihre Computerstimme entrüstet.
Weltweit besitzen etwa 6000 Menschen einen Tobii-Sprachcomputer, die meisten davon mit Augensteuerung. Daneben gibt es andere Anbieter. Wie viele Menschen einen solchen Computer benötigen, ist kaum festzustellen. Tobii-Computer, wie der von Kathrin Lemler, kosten rund 15.500 Euro. In Deutschland zahlen in der Regel die Krankenkassen das Gerät. In anderen Ländern müssen die Sprachbehinderten das Geld selbst aufbringen. Für viele ist es unbezahlbar.
Neben dem Computer hat Kathrin Lemler andere Wege gefunden, sich zu verständigen. Für ihre Mutter malt sie mit der Nase Buchstaben in die Luft. Für Assistenten und andere Sprachbehinderte buchstabiert sie mit dem Kopf. Jeder Buchstabe ist einer Richtung zugeordnet. Wenn David Strenzler übersetzen soll, muss die Studentin oft nur ein oder zwei Worte buchstabieren, bis der Sozialpädagoge begreift, was sie erzählen will. Kathrin Lemler ist eine Quasselstrippe. Sie hat immer etwas zu sagen, auch wenn Tobii mal streikt.
Mit ihrer automatischen Stimme kann sie allen möglichen Schabernack treiben. Wenn Kathrin Lemler im Zug jemanden anspricht, denken die Leute, es wäre eine Durchsage. Irgendwann will sie Tobii mal sagen lassen: „Sehr geehrte Fahrgäste, im Bordbistro gibt es jetzt Freibier für alle.“ Im Zug hat Kathrin Lemler aber auch schon sehr unschöne Erfahrungen gemacht. Sie ist klein und schmächtig, auf den ersten Blick kann man sie zehn Jahre jünger schätzen. Einmal stieg eine ältere Dame zu, tätschelte sie am Kopf und wollte ihr etwas Geld für ein Eis zustecken. Seitdem hat Kathrin Lemler einen Satz auf ihrem Computer gespeichert: „Ich habe Abitur, bitte behandeln Sie mich auch so.“
Grenzen der Integration
Diskriminierung ist für sie fast alltäglich. Zum Beispiel bei der Post. Dort darf sie ihre Päckchen nicht selbst abholen. Schließlich kann sie nicht unterschreiben. Eine Vollmacht ausstellen kann sie aus demselben Grund jedoch genauso wenig. Das gleiche Dilemma erlebt sie auf dem Amt, an der Uni und bei der Bank. Da hilft ihr auch Tobii nicht.
Kathrin Lemler ist geübt darin, sich öffentlich gegen Ausgrenzung zu wehren. Ihren Willen verkündet sie lautstark und mit Nachdruck, wenn nötig auch in der Zeitung. Sie weiß, dass sich niemand in der Öffentlichkeit die Diskriminierung von Behinderten vorwerfen lassen will. Für den Köln Marathon hat sie sich einen Sportrollstuhl besorgt, drei Freunde müssen die Strecke mit ihr laufen, damit niemand über den Rollstuhl stolpert. Im Sommer ist sie zum ersten Mal mit einem Gleitschirm geflogen. Angst kennt sie nicht.
Dank Tobii kann Kathrin Lemler auch ohne zu sprechen von sich Reden machen. Inzwischen ist sie über die deutschen Grenzen hinweg bekannt: Kathrin Lemler ist Beta-Testerin und Model für die Firma, die Tobii entwickelt hat. Sie ist Referentin für isaac, die Gesellschaft für unterstützte Kommunikation mit weltweit 3600 Mitgliedern. Isaac berät, forscht und informiert Sprachbehinderte, Pädagogen und Politiker. Sie hält Vorträge und hat an mehreren Büchern mitgeschrieben, zum ersten Mal, als sie zehn Jahre alt war. Das Kinderbuch „Kathrin spricht mit den Augen“ wurde in drei Sprachen übersetzt. National wie international hat sie Preise für Kommunikation gewonnen. Ihr Assistent David Strenzler nennt sie einen Workaholic.
Sogar in der Liebe hat der Sprachcomputer Kathrin Lemler Glück gebracht. Ihr Freund, ein Mitschüler aus ihrem Abitur-Jahrgang, war am Anfang nur scharf auf ihre Technik. Schließlich war Kathrin Lemler eine der ersten, die die Augensteuerung testen durften. Dann entdeckte der Klassenkamerad auch den Menschen hinter dem High-Tech-Gerät für sich. Auf die Frage, ob ihr Freund auch eine Behinderung hat, guckt Kathrin Lemler schelmisch und schreibt drei Worte in die Luft. Ihr Assistent übersetzt: „Der – ist – bekloppt.“
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